Created: Saturday, 30 July 2011 13:23

Offener Brief von Wolfgang Thierse an die Sächsische Staatsregierung

 

Wolfgang Thierse kritisiert in einem in der Sächsischen Zeitung veröffentlichten Brief die sächsische Staatsregierung im Umgang mit der Handydaten Affäre. Wir geben hier den vollständigen Wortlaut wieder: 

 

„Sehr geehrter Herr Staatsminister,

in Sachsen gerät man offenbar leicht in Verdacht. Das habe ich in jüngerer Zeit erfahren, als ich sächsische Sicherheitsbehörden – durchaus pointiert – kritisierte. Meine Kritik brachte mir – skurril genug – eine Anzeige eines Dresdner Polizeibeamten ein, die genauestens zu prüfen sich die Staatsanwaltschaft Dresden dann aber auch noch bemüßigt sah. Um dann schließlich mitzuteilen, dass Kritik, sei sie auch pointiert oder polemisch, durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt sei. Immerhin.

In Sachsen gerät man offenbar leicht in Verdacht – das erfahre ich auch jetzt wieder. Allerdings mache ich diese Erfahrung nicht allein. Zehntausende sind betroffen! Daher schreibe ich Ihnen diesen offen formulierten Brief über einen öffentlichen und politischen Vorgang.

Man gerät offenbar in Verdacht, wenn man beispielsweise an einer Mahnwache auf den Stufen der Dresdner Frauenkirche teilnimmt oder sich an einer genehmigten und friedlichen Kundgebung gegen einen Neonaziaufmarsch beteiligt. Ich teile diese Erfahrung mit den Inhabern von mindestens 250000 Mobilfunkanschlüssen, über die etwa eine Million Verkehrsdatensätze aus Mobilfunkverbindungen im Nachgang der Ereignisse vom 19.Februar 2011 erhoben wurden.

Und ich teile diese Erfahrung mit über 40000 Menschen, von denen nicht nur Verkehrsdaten (also etwa an einer Verbindung beteiligte Mobilfunknummern, Standorte, Gesprächsdauer) erhoben wurden, sondern auch sogenannte Bestandsdaten: Name, Vorname, Anschrift, Wohnort, Geburtsdatum.

All diese sensiblen, persönlichen Daten von 40000 Bürgerinnen und Bürgern, von Demonstranten, Anwohnern, Passanten, Journalisten, Abgeordneten und Geistlichen hat die Dresdner Polizei in den letzten Monaten von den Mobilfunkanbietern verlangt. Handelt es sich um 40000 Tatverdächtige?

Staatsanwaltschaft und Polizei in Dresden ermitteln gegen Personen, die verdächtig sind, am 13. und 19.Februar in Dresden Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen zu haben, schweren Landfriedensbruch zum Beispiel. Das ist Aufgabe und Pflicht der Ermittlungsbehörden.

Die Sicherheitsbehörden haben also nicht ohne jeden Anlass und nicht ohne jede formale gesetzliche Grundlage gehandelt. Aber eines haben die Behörden gewiss auch: Sie haben offensichtlich den Geist des Grundgesetzes missachtet, sie haben offensichtlich massenhaft und systematisch in die Grundrechte Zehntausender Bürger eingegriffen, sie haben offensichtlich in forschem Ermittlungseifer das Gefühl für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verloren.

Halten Sie es denn nicht für offensichtlich unangemessen und unverhältnismäßig, eine solch massenhafte Datenerhebung für die Aufklärung einer im Vergleich gering erscheinenden Zahl an Straftaten vorzunehmen? Oder sind Sie tatsächlich der Auffassung, dass solch massenhafte Eingriffe in die Grundrechte der Bürger in einem vernünftigen Verhältnis zum Aufklärungsbedürfnis der Polizei stehen?

Es gibt zu denken, dass zumindest manche Beamte und Staatsanwälte dies offenbar so sehen. Die Geisteshaltung, die hinter einer solchen Respektlosigkeit gegenüber den Bürgerrechten steht, kann zu einer Bedrohung für die Demonstrationsfreiheit, für den Rechtsstaat und die Demokratie werden.

Dass die befremdlichen, besorgniserregenden Ermittlungsmethoden der sächsischen Polizei mit den Grundsätzen eines demokratischen Rechtsstaates schwer vereinbar sind, haben Sie offenbar selbst erkannt und daher konsequenterweise den Polizeipräsidenten abberufen. Außerdem hat Ihr Kollege, der Sächsische Staatsminister der Justiz, Vernunft bewiesen und Vorschläge für eine Gesetzesänderung erarbeitet, die nach seinen Angaben genau das unmöglich machen soll, was in Dresden möglich war.

Nichtsdestotrotz: Es besteht dringender Aufklärungsbedarf. In den vergangenen Wochen haben zahlreiche Bürger – auch ich – von den Behörden Auskunft verlangt, ob – und wenn ja – welche personenbezogenen Daten über sie erhoben wurden. Sie haben Auskunft darüber verlangt, ob der Staat gegen sie ermittelt, ob der Staat sie einer Straftat verdächtigt. Die Bürger haben einen Anspruch darauf, dies zu erfahren!

Es entsteht jedoch der Eindruck, dass die Dresdner Behörden entweder nicht bereit oder nicht fähig sind, Rechenschaft über ihr Handeln, über den massenhaften Eingriff in die Grundrechte von Bürgern zu geben. Die Staatsanwaltschaft verweigert eine Auskunft mit dem Hinweis auf laufende Ermittlungen.

Die Polizei wiederum gibt an, es seien so viele Behörden in die Überwachungsmaßnahmen verwickelt, dass eine kurzfristige Auskunft nicht möglich sei. Die getroffenen polizeilichen Maßnahmen erfolgten allesamt im Verborgenen und wurden erst in den letzten Wochen – Stück für Stück wohlgemerkt und nie so recht freiwillig – von den Behörden eingeräumt und öffentlich. Darf man daraus schließen, dass den Betroffenen und der Öffentlichkeit das Ausmaß der polizeilichen Eingriffe in die Grundrechte der Bürger noch immer nicht bekannt ist?

Es ist an der Zeit, Herr Staatsminister, all diese Vorgänge aufzuklären. Unterrichten Sie die betroffenen Bürger. Bringen Sie Licht ins Dunkel der sächsischen Datenarchive.“